Anwaltshaftungsrecht – Einführung mit Praxisbeispielen
Henning F. Schaum[1]
Mit diesem Beitrag soll ein Überblick über die Grundsätze des Anwaltshaftungsrechts einerseits („Generelles“) und ein Einblick in die inzwischen sehr verzweigte berufsrechtliche Rechtsprechung anhand von Praxisbeispielen („Spezielles“) gegeben werden.
I. Generelles
Der Begriff „Anwaltshaftung“ erlebt derzeit eine regelrechte Konjunktur und ist zum Leidwesen der Anwaltschaft auch bei der Mandantschaft kein Fremdwort mehr. Woran liegt es, dass das Anwaltshaftungsrecht derzeit auf dem Vormarsch ist?
1. Zum Berufsstand des Rechtsanwaltes
Das Bild des „Halbgotts in Schwarz“[2] begann schon seit einigen Jahrzehnten zu bröckeln und bekommt seit kurzem sogar zusehends stärkere Risse. In der Bevölkerung ist die Einsicht zum Leben erwacht, dass weder Ärzte, Richter noch Anwälte unfehlbar sind und eben Fehler machen. Tatsächlich scheinen auch die Vertreter dieser Berufe echte Menschen zu sein.
Aber auch unter der Anwaltschaft selbst dürfte es inzwischen keine zwei Meinungen mehr dazu geben, dass das anwaltliche Haftungsrecht immer präsenter geworden ist.
Der Rechtsanwalt ist unabhängiges Organ der Rechtspflege – soweit ist jedem Anwalt der Klang des § 1 BRAO im Ohr. Von der Anwaltschaft wird zudem aber gefordert, dass sie sich innerhalb und außerhalb des Berufs der Achtung und des Vertrauens würdig erweist, die die Stellung als Rechtsanwalt erfordern.[3] Die Realität sieht jedoch häufig anders aus.
Zwar muss sie nicht so schwarz gemalt werden, wie es R. Bossi[4] und zuletzt J. Wagner in seinem vielzitierten Buch „Vorsicht Rechtsanwalt: Ein Berufsstand zwischen Mammon und Moral“ getan haben. Allerdings kommt man doch an einigen Kernaussagen dieser Werke nicht vorbei.
2. Werteverfall bei der Anwaltschaft?
Ein Werteverfall ist für die Anwaltschaft zu befürchten beziehungsweise aus J. Wagners Sicht bereits eingetreten. Ferner sei nach der Auffassung vieler Vertreter der Anwaltschaft die Qualität der anwaltlichen Fallbearbeitung stark zurückgegangen. Die Haftpflichtversicherer der Anwälte melden stark steigende Fallzahlen für Regressverfahren gegen ihre Versicherungsnehmer.
Die Kritiker des Berufsstandes gehen mit den Anwälten hart ins Gericht. Die Gründe hierfür sind vielschichtig.
Um nur eine Herangehensweise an die steigenden Zahlen der Haftungsfälle zu verfolgen: Unbestritten ist die Zahl der Zulassungszahlen zur Anwaltschaft in der Nachkriegszeit explosionsartig gestiegen. Waren es 1950 noch 12.844 zugelassene Rechtsanwälte, verzeichnete die Anwaltschaft 1990 bereits 56.638 Mitglieder. Zehn Jahre später wurde die 100.000er-Marke erreicht und nun im Jahre 2015 beginnt die Wachstumskurve bei 163.540 Vertretern unseres Berufsstandes „endlich“ abzuflachen.[5]
Aus dem gestiegenen Konkurrenzdruck folgt zum einen, dass die Einstellungsvoraussetzungen beispielsweise für Großkanzleien bekanntermaßen erheblich zugenommen haben und für den Großteil der Absolventen ein Angestelltenverhältnis in einer größeren angesehenen Kanzlei oder ein Richteramt unerreichbar sind. Immer häufiger gibt es auch Rechtsanwälte im Nebenberuf, weil der eigentliche Kanzleibetrieb für den Lebensunterhalt nicht ausreichend ertragreich ist. Zum anderen bedeutet es für die, die mit „zwei Mal ausreichend“ auf der Strecke bleiben, dass „nur“ der Weg in die Selbständigkeit zur Verfügung steht. Fragt man solche Absolventen des 2. Staatsexamens, geben diese häufig deprimiert zu, sich nun mangels Alternativen wohl oder übel selbständig machen zu müssen, wenn sie nicht einen komplett anderen Berufsweg einschlagen wollen. Aus der Stimmlage lässt sich bereits herleiten, dass selbst unter Examensabsolventen der Beruf des selbständigen Rechtsanwalts für viele keiner mehr ist, der besonderes Ansehen genießt oder erstrebenswert wäre.
Hiermit gehe nach Auffassung vieler einher, dass die Qualität der anwaltlichen Arbeit dieser Vertreter des Berufsstandes eben allenfalls ausreichend sein könne. Daher sei für die Mandanten von Berufsanfängern und „Feld- und Wiesenanwälten“ höchste Vorsicht geboten.
Ungeachtet dieses in seiner Pauschalität sehr fragwürdigen Erklärungsansatzes für die zunehmenden Haftungsfälle trifft es doch zu, dass die Anwaltschaft selbst reagiert hat und eine lebhafte Diskussion zum Stand der Ethik der Rechtsanwaltschaft[6] entbrannt ist und sich viele Vertreter des Berufsstandes in Aufsätzen hierzu geäußert haben.[7]
Einige schießen auch zurück und werfen der Rechtsprechung zunehmend „anwaltsfeindliche Tendenzen“[8] vor. Die Rechtsprechung in anwaltlichen Haftungssachen gehe nach der Auffassung vieler an der Realität vorbei und lasse den wirtschaftlichen Druck und die jeweiligen Mandatskonstellationen vollkommen unberücksichtigt. Hinzu kommt, dass oftmals auch die Gerichte, z.B. infolge der zunehmenden Prozesszahlen und dem daraus resultierenden Bearbeitungsdruck, ihre vom Gesetzgeber auferlegten Hinweispflichten (§ 139 ZPO) vernachlässigen oder erst zu einem Zeitpunkt anbringen, zu dem eine für den Mandanten hilfreiche Reaktion des Rechtsanwalts verspätet ist.
Bei vielen Mandanten herrscht wiederum die nicht unberechtigte Auffassung, dass der Rechtsanwalt gleich einem Handwerker eine Leistung erbringt, die insbesondere in Anbetracht der oft beträchtlichen Vergütung bitteschön auch mangelfrei zu sein hat. Wer Fehler macht, haftet für den Schaden.
Dabei darf mit Recht gefragt werden, was in den Augen jener Mandanten einen Mangel der anwaltlichen Fallbearbeitung darstellen soll. Einige der Mandanten, die sich hilfesuchend an den Autor wegen eines „Anwaltshaftungsfalles“ wenden, werfen ihrem früheren Anwalt vor, er habe ein gerichtliches Verfahren verloren. Dabei wird gern übersehen, dass bei einem Zivilrechtsstreit, der nicht durch Vergleich beendet wird, es in der Tat nicht ungewöhnlich ist, dass eine Partei verliert. Dem Anwalt werde aber vorgeworfen, dass er ja schließlich auch „nie erreichbar“ sei oder vorliegende „Beweise unterschlagen“ habe.
Aus solchen Fallschilderungen, die im Kern das Anwaltshaftungsrecht allenfalls streifen, lässt sich jedoch jedenfalls ableiten, dass die Sensibilität der Mandantschaft im Allgemeinen für das Wirken des Rechtsanwalts zugenommen hat und leichteste „Verfehlungen“ wie das Nichtzurückrufen sehr wohl heutzutage als schwere Vergehen interpretiert werden und versucht wird einen direkten Bezug zum Ausgang des Prozesses herzustellen. Zum anderen hat – auch aufgrund des reichhaltigen Angebots an Rechtsberatung – die Erwartungshaltung der Mandantschaft zugenommen.
Fest steht jedenfalls, dass die zutage tretenden Fälle, denen tatsächlich ersatzanspruchsbegründendes anwaltliches Fehlverhalten zugrunde liegt, deutlich zu zahlreich sind, als dass diese als unbedeutende Ausrutscher abgetan werden könnten, sodass in der Tat Anlass zur Beunruhigung besteht. Es fragt sich, wie mit solchem Fehlverhalten umgegangen werden soll.
Dem geschädigten Mandanten steht der Rechtsweg offen. Darüber hinaus genießt die Anwaltschaft das Privileg, für die Mitglieder eine eigene Disziplinargerichtsbarkeit vorzuhalten. Allerdings wird diese von Kritikern eher als „zahnloser Tiger“ bezeichnet, weshalb mit Recht danach gefragt werden darf, ob Verfahren der Rechtsanwaltskammer und des Anwaltsgerichts geeignet sind, einerseits den Werteverfall einzudämmen und andererseits eine Qualitätssteigerung zu bewirken.
3. Der Haftungsfall
Um das Entstehen eines Haftungsfalles verstehen zu können, ist es zunächst erforderlich, sich die Anforderung an die Arbeitsweise und die vertraglichen Pflichten des Rechtsanwalts vor Augen zu führen. Vorab: Die Anforderungen sind hoch und können hier nur kursorisch dargestellt werden.
Die zentrale Haftungs- und anspruchsbegründende Norm ist § 280 Abs. 1 BGB. Sie gibt den Maßstab vor. Es ist folglich danach zu fragen, ob das dem Rechtsanwalt im vermeintlichen Haftungsfall vorgeworfene Verhalten eine schuldhafte Pflichtverletzung (a) zum Gegenstand hat und dem Mandanten hieraus ein kausaler Schaden (b) entstanden ist.
Davon zu trennen ist dann die Frage, wer überhaupt haftet. Die Haftung aus dem Mandatsvertrag trifft in der Regel den Rechtsanwalt, der das Mandat tatsächlich bearbeitet. Darüber hinaus kommen jedoch noch weitere Haftende in Betracht. Für das Leitbild der Anwaltskanzlei – die Sozietät – als Gesellschaft bürgerlichen Rechts hatte der BGH bereits 1971 richtungsweisend festgelegt, dass alle Sozien als Gesamtschuldner haften.[9] Und schon wird klar, dass die Fragestellung um den Außenauftritt der Kanzlei sowie die rechtlichen Probleme um all die anderen denkbaren Zusammenschlüsse von Rechtsanwälten, wie in der Partnerschaftsgesellschaft, Rechtsanwalts-GmbH, LL.P., Bürogemeinschaft und nicht zuletzt auch der neu etablierten Partnerschaftsgesellschaft mit beschränkter Berufshaftung den Rahmen dieser Darstellung ebenso sprengen würden, wie eine Einzelauflistung anwaltlicher Pflichten z.B. im Rahmen der Fristen- oder Posteingangskontrolle, der unverzüglichen Mandatsablehnung oder Überwachung des Büropersonals.
Zu berücksichtigen ist bei jedem Haftungsfall jedoch – um beim Thema „Haftungsfall“ zu bleiben -, dass den Mandanten im Haftungsprozess die Beweislast für die schuldhafte Pflichtverletzung, den Schaden und auch die Schadenskausalität trifft. Hier und dort helfen dem Mandanten auch einige Beweiserleichterungen. Ist die Frage, ob dem Mandanten durch eine schuldhafte Pflichtverletzung des Rechtsanwalts ein Schaden entstanden ist, vom Ausgang eines anderen Verfahrens abhängig, muss das Regressgericht selbst prüfen, wie jenes Verfahren richtigerweise zu entscheiden gewesen wäre.
a) schuldhafte Pflichtverletzung
Im Rahmen des Mandatsverhältnisses obliegen dem Rechtsanwalt diverse Haupt- und Nebenpflichten, die von der Rechtsprechung unter Berücksichtigung des Berufsbildes des Rechtsanwaltes (§§ 1 bis 3 BRAO) entwickelt worden sind.
Die Rechtsprechung des BGH hat die Hauptpflichten eines Anwaltsvertrags dahingehend konkretisiert, dass der Rechtsanwalt den Mandanten beraten und umfassend und erschöpfend belehren muss. Darüber hinaus ist er zur Sachverhaltsprüfung verpflichtet, muss dem Mandanten die zur Zielerreichung erforderlichen Schritte anraten und dabei den sichersten Weg wählen.
Er hat vor voraussehbaren und vermeidbaren Nachteilen zu bewahren oder über Risiken aufzuklären und Zweifel und Bedenken mitzuteilen, damit der Mandant eine sachgerechte Entscheidung treffen kann.
Dabei gliedert sich die anwaltliche Beratung jedenfalls in „Rechtsprüfung“ und „Rechtsberatung“.
Hat der beauftragte Rechtsanwalt den zur Erledigung seines Auftrags maßgeblichen Sachverhalt ermittelt, so ist es seine wichtigste Aufgabe, diesen Sachverhalt im Hinblick auf das von seinem Mandanten erstrebte Ziel sorgfältig und nach jeder Richtung rechtlich zu prüfen.[10]
Nach der Klärung des Sachverhaltes und der mandatsbezogenen Rechtsprüfung obliegt dem Rechtsanwalt die weitere vertragliche Hauptpflicht, seinen Auftraggeber über das Ergebnis der Prüfung der Sach- und Rechtslage zu unterrichten und ihm darzulegen, welche Schlüsse aus diesem Befund zu ziehen sind.[11]
Gibt es mehrere rechtlich gangbaren Wege zu dem erstrebten Ziel des Mandanten, so hat der Rechtsanwalt den sichersten Weg zu empfehlen, das heißt diejenigen Maßnahmen vorzuschlagen, mit denen das Ziel mit größter Sicherheit erreicht werden kann.
Aus der Darstellung dieser doch recht ernüchternden, wenn nicht gar erschlagenden Anforderungen wird auch klar, weshalb der Trend der Anwaltschaft weg vom Generalisten hin zum Spezialisten einer Fachrichtung immer stärker wird. Weil eben, wie bereits festgestellt, Anwälte auch Menschen sind und ein Mensch nicht alles wissen und nicht alles können kann. Daher tut der gut daran, der das Haftungsrisiko minimiert und lieber einige rechtliche Problemstellungen sicher beherrscht als viele nur unsicher.
Die Forderung der Rechtsprechung nach umfassender, erschöpfender und damit schier grenzenloser Pflicht zur Belehrung und Aufklärung ist nach Ansicht des Autors und vieler seiner Kollegen verfehlt, denn sie berücksichtigt die konkreten Umstände des Mandats nicht und stellt lediglich einen theoretischen Ansatz dar. Problematischer ist dabei noch nach dem Gedanken „hinterher ist man immer schlauer“, dass das Regressgericht, das später den Haftungsfall zu verhandeln hat, die Beratung des Anwalts nicht an dem konkreten Auftrag bemisst sondern an dem, was bei einer ex-post-Betrachtung aus irgendeinem Grunde doch noch relevant geworden ist und sich damit quasi auf alles erstreckt. Der Anwalt hätte also alles berücksichtigen müssen und dabei noch den sichersten Weg wählen müssen; da fragt sich doch, ob es diesen sichersten Weg tatsächlich überhaupt (immer) gibt. Jedenfalls stellt sich dieser Weg häufig eben erst im Nachhinein heraus.
Aber zum Teil wird vom Rechtsanwalt erwartet, dass er als „juristischer Übermensch“ agiert. Der BGH hat in einem Regressverfahren gegen einen Rechtsanwalt klargestellt, dass dieser auch für die Fehler des Gerichts einzustehen hat.[12] Der BGH hatte zwar erkannt, dass eine Pflichtverletzung, die zum Schaden des Mandanten geführt hatte, im Grunde nicht beim Anwalt sondern bei dem zuständigen Gericht zu suchen war. Gleichwohl wurde der Rechtsanwalt verurteilt, denn der BGH war der Auffassung, dass der Anwalt verpflichtet war, das Gericht auf dessen fehlerhafte Rechtsansicht hinzuweisen und dadurch den Schaden des Mandanten zu verhindern.
Zu dieser Rechtsprechung hatte sich im Anschluss das BVerfG[13] glücklicherweise kritisch geäußert: “ Auch als Organe der Rechtspflege haften die Rechtsanwälte nicht ersatzweise für Fehler der Rechtsprechung, nur weil sie haftpflichtversichert (§ 51 BRAO) sind.“ Dennoch – die Grundsatzentscheidung des BGH ist zu beachten.
Die Praxis zeigt, dass gewisse Fallkonstellationen besonders häufig auftreten und sozusagen, als Hauptfehlerquellen anwaltlicher Berufsausübung bezeichnet werden können.
Hierzu zählt zunächst als Klassiker, das Versäumen von Fristen. Geschätzt liegen etwa einem Drittel aller Haftungsfälle Fristversäumnisse von Rechtsanwälten bzw. ihrer Mitarbeiter zugrunde.
Zu unterscheiden sind zum einen Fristen in einem Prozess und materiellrechtliche Fristen, wobei dort klassischerweise die Verjährungsfristen sehr häufig den Gegenstand eines Regressprozesses bilden. Bei den prozessualen Fristen ist wiederum zwischen “relativen” und “absoluten” Fristen zu unterscheiden. Nur bei absoluten Fristen führt das Versäumen unmittelbar zum Nachteil. Als absolute Fristen sind beispielsweise Berufungs- und Revisionsfristen zu nennen. Wird die Frist zur Einlegung der Berufung versäumt, ist dieses Rechtsmittel in der Regel unwiederbringlich verloren und der Prozess damit beendet.
Das Versäumen relativer Fristen führt praktisch nie zum Verlust des Prozesses. Als eine solche Frist ist zum Beispiel die Schriftsatzfrist, also die Frist, in der auf den Schriftsatz der Gegenseite zu erwidern ist, zu nennen. Nur, wenn die Fristüberschreitung tatsächlich zu einer Verzögerung des Rechtsstreits führt, drohen deswegen Nachteile.
Das Hauptrisiko liegt daher bei der Versäumung absoluter Fristen. Manchmal werden diese kanzleiintern falsch berechnet; meistens ist die Fristberechnung jedoch tatsächlich nicht das Problem, sondern die rechtzeitige Reaktion auf diese Frist. Legt beispielsweise der mit der Berufung im Zivilverfahren beauftragte Rechtsanwalt am letzten Tag der Berufungsfrist die Berufung beim erstinstanzlich zuständigen Gericht ein, ist der Haftungsfall vorprogrammiert. Denn richtigerweise wäre die Berufung bei dem für die Berufung zuständigen zweitinstanzlichen Gericht einzulegen. Das Gericht erster Instanz wird die erhaltene Berufungsschrift zwar im gewöhnlichen Geschäftsgang an das Gericht zweiter Instanz weiterleiten. Der Schriftsatz wird dieses Gericht jedoch zu spät erreichen, womit die Berufungsfrist versäumt ist und der Prozess beendet. Ein Wiedereinsetzungsverfahren wird erfolglos bleiben, denn der Rechtsanwalt war nicht „ohne Verschulden“ verhindert, die Frist einzuhalten, § 233 S. 1 ZPO.
Immer häufiger werden Rechtsanwälte aber auch wegen sogenannter Vergleichsreue in Anspruch genommen. Dabei kommt der Mandant nach einiger Zeit zu dem Schluss, dass der ausgehandelte Vergleich für ihn ungünstig ist oder nachteilige Folgen hat, die er vorher nicht kannte. Dem Rechtsanwalt wird dann zumeist vorgeworfen, er habe den Mandanten unzutreffend über die Bedeutung und die Reichweite der Vergleichsregelungen aufgeklärt oder er hätte dem Mandanten insgesamt vom Vergleichsschluss abraten müssen.
Als weitere Schadensursache ist zu konstatieren, dass manche Rechtsanwälte Normen, die für ihren Fall relevant sind, nicht kennen, diese falsch anwenden oder ihnen die einschlägige Rechtsprechung hierzu unbekannt ist. Diese Fehlerquelle wird schlicht als Unkenntnis des Rechts bezeichnet. Dabei ist evident, dass das Ergebnis der Mandatsbearbeitung sehr unbefriedigend ausfallen kann. Die geschädigten Mandanten fragen mit Recht danach, ob das Verschulden des Rechtsanwaltes in solchen Konstellationen nicht auch schon zu einem früheren Zeitpunkt anzusetzen wäre -Hätte der Rechtsanwalt das Mandat überhaupt übernehmen dürfen, wenn er die für die Bearbeitung erforderliche Sachkenntnis nicht besitzt oder sich scheinbar auch nicht aneignen kann?
Solange der Rechtsanwalt Erfolg hat, wird ihm meist jedweder Fehler und jede Eigenheit verziehen. Es zeigt sich in den dem Autor bekannten Haftungsfällen, dass gerade wenn der Rechtsanwalt aber das Gerichtsverfahren verloren hat, dem Mandanten dazu geraten wird, die Entscheidung durch die nächsthöhere Instanz überprüfen zu lassen. Das Anraten hierzu erfolgt auffälliger Weise umso häufiger, wenn hinter dem Mandanten die zahlungskräftige Rechtsschutzversicherung steht. Dieser pauschale Rat zur Überprüfung hat mit einer realistischen Rechtsprüfung eines Rechtsmittels nichts zu tun.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass die wenigsten Rechtsanwälte hellseherische Fähigkeiten haben. Auch wenn der Anwalt die Erfolgsaussichten als gut bewertet und gleichwohl den Prozess verliert, folgt hieraus noch nicht automatisch eine Verantwortlichkeit für eine Pflichtverletzung. Wenn jedoch nachgewiesen werden kann, dass aufgrund der zum Zeitpunkt der Bewertung der Erfolgsaussichten vorliegenden Informationen richtigerweise kein anderes Ergebnis als die Aussichtslosigkeit eines Prozesses zu erzielen war, so kann dies zu einer Haftung führen. Dies gilt umso mehr, wenn der Rechtsanwalt bereits den Ausgangsprozess aufgrund eigener Pflichtverletzungen verloren hatte.
a) kausaler Schaden
Um einen Haftungsanspruch durchsetzen zu können ist weiter zu klären, ob dem Mandanten überhaupt ein Schaden entstanden ist und in der Praxis noch viel wichtiger – ob die Pflichtverletzung des Rechtsanwaltes hierfür überhaupt ursächlich war.
Bleiben wir beim Beispiel der Berufungseinlegung beim falschen Gericht. Das hierdurch eingetretene Fristversäumnis stellt unstreitig eine Pflichtverletzung aus dem Mandatsvertrag dar. Sie ist zumeist auch schuldhaft begangen worden.
War Inhalt des Zivilrechtsstreits beispielsweise die Geltendmachung einer Schadensersatzforderung, so scheint dem Mandanten aufgrund des Prozesses auch ein Schaden entstanden zu sein, denn er kann diese Forderung nun nicht mehr durchsetzen. Steht aber fest – und dies hat das Regressgericht zu beurteilen – dass das Berufungsverfahren ohnehin keine Aussicht auf Erfolg hatte, dann war die Pflichtverletzung des Anwalts für den Schadenseintritt nicht ursächlich, denn selbst bei fristgerechter Einlegung der Berufung hätte der Mandant seinen Schadensersatzanspruch mangels Begründetheit nicht durchsetzen können.
Sicherlich ergeben sich aus dieser Konstellation weitere Folgefragen, wie die nach den Kosten des Rechtsanwalts oder ob der Rechtsanwalt nicht dadurch eine Pflichtverletzung begangen hat, weil er dem Mandanten nicht zuvor von der Berufungseinlegung mangels Erfolgsaussichten abgeraten hatte. Dies hängt jedoch von der Fallkonstellation ab. Wenn der Mandant beispielweise überhaupt nicht nach den Erfolgsaussichten fragt, sondern unbedingten Auftrag zur Berufungseinlegung erteilt, kann dem Rechtsanwalt nicht vorgeworfen werden, er habe die Erfolgsaussichten nicht geprüft, denn zu dieser Prüfung bestand gerade kein Auftrag. Wenn er sie aber prüft und der Mandant die Entscheidung über das Ob einer Berufung hiervon abhängig macht, so muss die Einschätzung des Rechtsanwalts im Grundsatz auch zutreffend – jedenfalls aber mit guten Gründen vertretbar sein.
II. Spezielles und Praxisbeispiele
Im Folgenden werden einige gerichtlich entschiedene Fälle mit berufungsrechtlicher Einkleidung aufgeführt, die für haftungsträchtige Vorgehensweisen bei der Mandatsbearbeitung sensibilisieren sollen.
1. Verfügungen per Klebezettel
Ein Rechtsanwalt hatte in einem Zivilverfahren zwar rechtzeitig Berufung für seinen Mandanten eingelegt, wurde aber nach einiger Zeit seitens des Gerichts darauf hingewiesen, dass er es versäumt habe, die Berufung fristgemäß zu begründen. Im Regressverfahren gab er an, er habe die Eintragung der Berufungsbegründungsfrist auf einem Klebezettel auf der Akte verfügt – das sei kanzleiintern so üblich. Der Zettel ging verloren – das Wiedereinsetzungsverfahren auch. Der BGH führt hierzu aus, dass der Rechtsanwalt nicht den ihm obliegenden Sorgfaltspflichten an die Kontrolle der Berufungsbegründungsfrist genügt, wenn er sein Büro durch Anbringen eines Klebezettels an den Aktendeckel anweist, die Frist einzutragen.[14]
2. Der Strafrechtler im Zivilrecht
Die Konstellation des im Mai letzten Jahres vom OLG Schleswig entschiedenen Falles kommt uns bekannt vor: Der Rechtsanwalt legt im Zivilverfahren die Berufung beim erstinstanzlich zuständigen Gericht ein. Hierdurch wird die Berufungsfrist versäumt. Den Wiedereinsetzungsantrag begründete der Rechtsanwalt aber mit interessantem Aspekt – er brachte vor, bei der Berufungseinlegung einem unvermeidbarem Rechtsirrtum unterlegen zu sein, da er fast ausschließlich im Strafrecht tätig sei und dort die Berufung gemäß § 314 Abs. 1 StPO beim Gericht des ersten Rechtszuges einzulegen sei. Dem folgte das Gericht wenig überraschend nicht – der Irrtum sei durchaus vermeidbar gewesen, denn „die Regelung des § 519 Abs. 1 ZPO gehört zu den wesentlichen Vorschriften, die jeder im Zivilrecht tätige Rechtsanwalt kennen muss.“[15]
Zu berücksichtigen ist unabhängig von dieser Entscheidung auch der Umstand, dass eine bei einer gemeinsamen Postannahmestelle des erst- und des zweitinstanzlichen Gerichts eingehende Berufungsschrift nicht als bei dem zuständigen Gericht eingegangen anzusehen ist, wenn das Gericht falsch adressiert ist.[16] Es kommt für die Rechtzeitigkeit der Berufung auch hierbei darauf an, ob der Schriftsatz dann innerhalb der Frist hausintern weitergeleitet wurde.
3. Formularmäßige und unvollständige Berufungsbegründung
In einem Schadensersatzprozess hatte das Landgericht die Klage aus mehrerlei Gründen abgewiesen. Die vom Rechtsanwalt eingelegte Berufung war dem Berufungsgericht zu pauschal und unvollständig, weshalb es die Berufung sogar als unzulässig abgewiesen hatte. Die hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde des Anwaltes wurde vom BGH verworfen.
Nach § 520 Abs. 3 ZPO muss die Berufungsbegründung die Umstände bezeichnen, aus denen sich nach Ansicht des Berufungsklägers die Rechtsverletzung und deren Erheblichkeit für die angefochtene Entscheidung ergeben. Sie muss auch konkrete Anhaltspunkte bezeichnen, die Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der Tatsachenfeststellungen im angefochtenen Urteil begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten.
Besondere formale Anforderungen bestehen zwar nicht und es ist für die Zulässigkeit auch ohne Bedeutung, ob die Ausführungen schlüssig oder rechtlich haltbar sind. Allerdings genügt es nach gefestigter Rechtsprechung nicht, die Auffassung des erstinstanzlichen Gerichts mit formularmäßigen Sätzen zu rügen oder lediglich auf das Vorbringen in erster Instanz zu verweisen.[17] So lag es hier. Der Rechtsanwalt hatte es nach Auffassung des BGH zudem versäumt, jede einzelne der vom Landgericht die Klageabweisung tragende Begründung anzugreifen.
Der BGH hält fest: Hat das erstinstanzliche Gericht die Abweisung der Klage auf mehrere von einander unabhängige, selbständig tragende rechtliche Erwägungen gestützt, so muss die Berufung jede tragende Erwägung angreifen, weil sonst das Rechtsmittel insgesamt unzulässig ist.[18]
III. Fazit
Es ist kaum zu bestreiten, dass in den letzten Jahren ein Qualitätsverlust der anwaltlichen Mandatsbearbeitung zu verzeichnen war. Dieser Trend scheint sich zusehends zu verfestigen. Die Gründe hierfür sind vielschichtig. Die bestehenden Erklärungsversuche beinhalten hauptsächlich Schuldzuweisungen an das Ausbildungssystem, die Rechtsanwaltskammern und die Wirtschaft.
Fest steht jedoch mit Blick auf die sich weiter verästelnde Rechtsprechung, dass die Anforderungen an die Rechtsanwälte ebenso weiter steigen, wie die Zahl der Haftungsfälle.
Effektive und kurzfristige Lösungsansätze sind derzeit kaum zu erkennen. Probates Mittel – aber sicher kein allheilendes – gegen die zunehmenden Haftungsrisiken ist zumindest mittelfristig der Weg hin zur Spezialisierung.
[1] Der Autor ist Rechtsanwalt und auf das anwaltliche Haftungsrecht spezialisiert.
[2] Rolf Bossi: Halbgötter in Schwarz: Deutschlands Justiz am Pranger
[3] Dr. M. Krenzler, Präsident der RAK Freiburg und Vizepräsident der BRAK: BRAK Magazin 06/2014, S. 3.
[4] s. Fn. 2
[5] Mitgliederstatistik der BRAK Stand: 01.01.2015
[6] vgl. Diskussionspapier des BRAK-Präsidiums zur Berufsethik der deutschen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (Stand: 30.08.2010).
[7] Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins durch den Ausschuss Anwaltliche Berufsethik zum Diskussionspapier des BRAK-Präsidiums zur Berufsethik der deutschen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte (Stand: 30.8.2010)
[8] Dr. Ekkehart Reinelt: Anwaltsfeindliche Tendenzen in der Rechtsprechung, ZAP 2000, 491.
[9] BGH, Urteil v. 06.07.1971, VI ZR 94/69, NJW 1971, 1801.
[10] BGH, Urteil v. 18.03.1993 – IX ZR 120/92, NJW 1993, 1779.
[11] BGH, Urteil v. 29.04.2002 – IX ZR 52/02, NJW-RR 2003, 1212.
[12] BGH, Urteil v. 17.01.2002 – IX ZR 182/00, NJW 2002, 1048.
[13] BVerfG, Beschluss v. 12.08.2002 – 1 BvR 399/02, NJW 2002, 2937.
[14] BGH, Beschluss v. 17.12.1998 – VII ZB 19-98, NJW 1999, 1336.
[15] OLG Schleswig, Beschluss v. 20.5.2014 – 11 U 55/14, NJW-RR 2014, 1338.
[16] BGH, Beschluss v. 13.10.1982 – IVb ZB 154/82, NJW 1983, 123; BayObLG, Beschluss v. 17.2.1984 – 1 Ob OWi 314/83, NJW 1984, 15.
[17] BGH, Beschluss v. 10.2.2015 – VI ZB 26/14, BeckRS 2015, 05875 mwN.
[18] BGH, Beschluss v. 3.3.2015 – VI ZB 6/14, MDR 2015, 481.