Zur Verschwiegenheitspflicht der Rechtsanwaltskammer im Disziplinarverfahren
Wegen berufsrechtlicher Verfehlungen können die zuständigen Rechtsanwaltskammern gegen Rechtsanwälte, die Mitglieder dieser Kammern sind, Disziplinarverfahren einleiten und Berufsrechtsverstöße ahnden. Ein solcher Verstoß könnte beispielsweise die Weigerung zur Herausgabe der Handakte an den Mandanten darstellen. Wir haben bereits in einem Beitrag hierüber und auch über die Folgen eines solchen Verstoßes berichtet.
Wie der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 11. Januar 2016 festgestellt hatte, können jedoch auch die Rechtsanwaltskammern im Rahmen dieser berufsrechtlichen Aufsichts- oder Beschwerdeverfahren Fehler machen. Nachdem sich im zugrunde liegenden Fall ein Mandant über einen Rechtsanwalt beschwert hatte, wurden dem Mandanten -was in der Praxis nach unseren Erfahrungen nicht unüblich ist- die Stellungnahmen des Rechtsanwalts zur Kenntnis gegeben. Nach der Feststellung des BGH verletzten die Vorstandsmitglieder der Rechtsanwaltskammer damit die ihnen obliegende Verschwiegenheitspflicht gemäß § 76 Abs. 1 BRAO.
Der BGH entschied:
Die Rechtsanwaltskammer war nicht berechtigt, die Stellungnahmen des Anwalts in dem Aufsichtsverfahren ohne dessen Zustimmung an die Beschwerdeführerin in diesem Verfahren weiterzuleiten. Denn die Stellungnahmen des Anwalts sind Bestandteil der von der Rechtsanwaltskammer über ihn geführten Personalakte (dazu 1.) und unterliegen der Verschwiegenheitspflicht nach § 76 Abs. 1 BRAO (dazu 2).
- Der Begriff der Personalakte in § 58 BRAO ist nach einhelliger Auffassung in Rechtsprechung und Literatur materiell zu verstehen. Für die Frage, ob ein Vorgang zu den Personalakten gehört, kommt es nicht darauf an, wo und wie er geführt oder aufbewahrt wird (formelles Prinzip), sondern allein darauf, ob er den Rechtsanwalt in einem inneren Zusammenhang mit seinem Status als Rechtsanwalt betrifft. Bestandteile der Personalakte sind somit auch Unterlagen aus einem gegen den Rechtsanwalt eingeleiteten Aufsichts- oder Beschwerdeverfahren. Hierzu zählen Stellungnahmen, die – wie vorliegend – ein Rechtsanwalt zu Beschwerden oder ungünstigen Tatsachenbehauptungen abgibt, die gegen ihn gerichtet sind.
- Nach § 76 Abs. 1 BRAO haben die Mitglieder des Vorstandes der Rechtsanwaltskammer über die Angelegenheiten, die ihnen bei ihrer Tätigkeit im Vorstand über Rechtsanwälte, Bewerber und andere Personen bekannt werden, Verschwiegenheit gegen jedermann zu bewahren. Das gleiche gilt für Rechtsanwälte, die zur Mitarbeit herangezogen werden, und für Angestellte der Rechtsanwaltskammer. Zu den der Verschwiegenheitspflicht unterliegenden Angelegenheiten gehören der Inhalt der von einer Rechtsanwaltskammer über ein Kammermitglied geführten Personalakte und mithin auch Stellungnahmen, die in einem Aufsichts- und Beschwerdeverfahren nach § 56 , § 73 Abs. 2 Nr. 4 , § 74 BRAO erfolgen. Letzteres ergibt sich zudem unmittelbar aus § 73 Abs. 3 Satz 3 BRAO . Danach bleibt, soweit der Kammervorstand gemäß § 73 Abs. 3 Satz 1, 2 BRAO im Beschwerdeverfahren den Beschwerdeführer von seiner Entscheidung in Kenntnis setzt, § 76 BRAO unberührt. Durch die Verweisung auf § 76 BRAO wird klargestellt, dass bei der Mitteilung nach § 73 Abs. 3 Satz 1 BRAO das Verschwiegenheitsgebot nach § 76 BRAO zu achten ist.
Eine Befugnis der Rechtsanwaltskammer zur Weiterleitung der Stellungnahmen des Anwaltes ergibt sich schließlich auch nicht aus Natur, Inhalt und Zweck des Aufsichts- und Beschwerdeverfahrens nach § 56 , § 73 Abs. 2 Nr. 4 , § 74 BRAO. Das Aufsichtsverfahren ist ein Verfahren von Amts wegen. Erlangt der Kammervorstand Kenntnis von zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten für das Vorliegen einer Pflichtverletzung eines Rechtsanwalts, ist er verpflichtet, ein Aufsichtsverfahren einzuleiten und den Sachverhalt vollständig aufzuklären. Auch wenn die Aufklärungsmöglichkeiten der Rechtsanwaltskammer begrenzt sind, rechtfertigt dies nicht die Weitergabe der Stellungnahmen des Anwalts.
Die Rechtsanwaltskammer hatte in dem Beschwerdeverfahren die Formulierung gewählt, dass der betroffene Rechtsanwalt besonders darauf hinweisen muss, wenn seine Stellungnahme nur für den Kammervorstand bestimmt sein soll. Diese Formulierung gibt das Erfordernis einer Zustimmung des Betroffenen nicht zutreffend wieder, sondern ersetzt dieses Erfordernis durch ein Widerspruchsrecht. Der betroffene Rechtsanwalt wird durch die vorgenannte Formulierung zu der Fehlannahme verleitet, er müsse der Weitergabe seiner Stellungnahme nicht zustimmen, sondern habe lediglich ein Widerspruchsrecht. Vor diesem Hintergrund kann die Übersendung der Stellungnahme des Anwalts an die Rechtsanwaltskammer nicht als hinreichend deutliche konkludente Ausübung eines – ihm möglicherweise nicht bekannten – Zustimmungsrechts ausgelegt werden, sondern lediglich als die Unterlassung der Ausübung eines – im Verhältnis zum Zustimmungserfordernis schwächeren – Widerspruchsrechts, die indes zur Rechtfertigung der Offenbarung von geheim zu haltenden Tatsachen nicht genügt. Der hohe Stellenwert der Verschwiegenheitspflicht, der durch sie bezweckte Schutz der Daten Dritter und die hierauf bezogene Verschwiegenheitspflicht des Rechtsanwalts nach § 43a Abs. 2 BRAO erfordern – wie ausgeführt – zur Annahme einer konkludenten Zustimmung ein eindeutiges Verhalten des Rechtsanwalts, das keinen Zweifel daran lässt, dass er der Weiterleitung seiner Stellungnahme zustimmt. Ein lediglich unterlassener Widerspruch gegen die Weiterleitung seiner Stellungnahme lässt den sicheren Rückschluss auf eine solche Zustimmung nicht zu.